Samstag, 30. August 2014


Daniel Vedder
Monatsthema 8/2014


Vor 100 Jahren stürzte sich Europa in einen Krieg, der die Welt für immer verändern würde. Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs wird momentan viel diskutiert, doch wie sieht es mit den Auswirkungen aus? Wie beeinflusste der „große Krieg“ die Politik, die Weltgeschichte, die Technologie, das tägliche Leben?



Die offensichtlichsten Änderungen, die der Krieg herbeiführte, sind weltpolitischer Art. Betrachten wir das Vorkriegs-Europa, sehen wir eine Ansammlung großer Imperien, die größtenteils schon seit Hunderten von Jahren Bestand hatten. Das British Empire, seit seinem Sieg über die spanische Armada im 17. Jahrhundert die Seemacht Nummer eins, beherrscht ein Viertel der gesamten Landfläche der Erde. Frankreich, dessen Kolonien knapp die Hälfte Afrikas bedecken, besitzt auch im Fernen Osten Territorien. Dann gibt es noch Österreich-Ungarn, dessen herrschendes Habsburger Geschlecht seit Ende des Mittelalters in fast allen Königshäusern Europas vertreten ist. Das deutsche Kaiserreich, vereinigt unter der Führung Preußens, das auch schon seit Friedrich dem Großen eine ernst zu nehmende Macht darstellt. Russland, dessen Zaren sich als Erben der Oströmischen Kaiser sehen. Und letztendlich das Osmanische Reich, das seinerzeit mit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 die Linie eben jener Kaiser beendete.


Und wie sah es damit nach dem Krieg aus? Der Vertrag von Sèvres zerstörte 1920 das Osmanische Reich und die heutige Türkei wurde geboren. In diesem Zuge übernahm Großbritannien das Mandat über Palästina, wo es durch sein widersprüchliches Handeln den aufkeimenden Arabisch-Israelischem Konflikt verstärkte. Auch Österreich verlor seinen Status als Großmacht als die Verträge von Saint-Germain und Trianon es von Ungarn abspalteten. Es verlor seine Gebiet, den Großteil seiner Armee und seinen Kaiser. Zwei historische Reiche waren fast von einem Tag auf den anderen in sich zusammengefallen.

An ihre Stelle traten zwei neue Mächte. Russland, dessen rote Revolution 1917 den Zar gestürzt hatte, hatte sich in die Sowjetunion verwandelt. Die USA bewies mit ihrem Eingriff in den Krieg zum ersten Mal ihre wahre internationale Bedeutung und Stärke. Damit hatten die beiden Schauspieler, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts bestimmen würden, die Weltbühne betreten. In Deutschland indes säte der Versailler Vertrag die Samen des Hasses, die mit dazu beitragen würden, dass sich die Welt nur 20 Jahre später in einem noch grausameren Krieg befinden würde.


Doch es gab längst nicht nur politische Veränderungen. Man sagt, dass nichts die Technik so schnell vorantreibt wie der Krieg. Natürlich gilt dies insbesondere für Militärtechnologien, doch auch das Zivilleben profitiert oftmals von diesem Fortschritt. Flugzeuge und Panzer, die beiden bestimmenden Waffen des 20. Jahrhunderts, sahen beide ihre ersten Kampfeinsätze im Ersten Weltkrieg. Vor allem Flugzeuge machten in diesen vier Jahren eine erstaunliche Entwicklung mit. Waren sie anfangs noch „ein Spielzeug ohne militärischen Wert“, wie sich ein General ausdrückte, Hobbybasteleien verrückter Erfinder und Tüftler, so etablierten sie sich während des Krieges als eine unersetzliche Waffe, die rasant verbessert wurde. So kam es, dass nach dem Krieg die ersten Luftfahrtgesellschaften eingerichtet werden konnten, die Passagiere und Güter viel schneller transportierten, als man es zuvor für möglich gehalten hatte.


Auch die Gesellschaft durchlebte einen tiefgreifenden Wandel. Zwischen der Industriellen Revolution und dem Kriegsausbruch hatte sich das tägliche Leben in Europa nicht viel verändert. Patriotismus, Nationalismus und Untertanengeist gehörten zu den bestimmenden sozialen Gefühlen. In England lebte man in der goldenen Epoche der Victorian und Edwardian Herrschaftszeiten. In Deutschland war man stolz auf das neue Kaiserreich, die Chance, endlich einen „Platz an der Sonne“ zu ergattern. Es war eine sorgenfreie Zeit, zumindest für die bürgerlichen und adeligen Schichten. Den Krieg sah man als eine ehrenhafte Auseinandersetzung in fast sportlichem Geiste zwischen zwei Armeen, die für ihr Vaterland kämpften. Doch dann kam der Weltkrieg.


Plötzlich fand der Krieg nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld statt. Er betraf jetzt jeden. Mit Seeblockaden und U-Bootkrieg schnürten sich die Kontrahenten gegenseitig die Kehle ab, das ganze Volk litt unter Nahrungsmittelknappheit. Jeder musste mit anpacken; wer nicht kämpfen konnte, musste in die Fabriken und Munition herstellen oder sich anderweitig am „war effort“ beteiligen, wie die Engländer den nationalen Kraftakt bezeichneten. Und jeder verlor Freunde, Verwandte, Bekannte in den Schützengräben Frankreichs. Mit einer ehrenhaften Auseinandersetzung unter zivilisierten Völkern hatte dieses Massenschlachten, dieser totale Krieg wenig zu tun. Beim nächsten Krieg, der über Europa hereinbrechen würde, würde es keine Massen mehr geben, die auf der Straße den Kriegsausbruch feiern. Der Krieg, früher noch verherrlicht, war zum Schreckgespenst geworden. 


Frauen, die während den Kriegsjahren genauso hart gearbeitet hatten wie Männer, konnte man das Wahlrecht nicht länger vorenthalten – sowohl Deutschland als auch England gaben es ihnen in der Nachkriegszeit. Sie waren überhaupt sehr viel emanzipierter, die Frauen; sie fingen an, in der Öffentlichkeit Hosen zu tragen und zu rauchen, was zehn Jahre zuvor absolut undenkbar gewesen wäre. Auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft waren verwischt worden. Adelige hatten mit Arbeitern zusammen gekämpft und waren zusammen gefallen, zuhause litten Bürger wie Bauern unter Hunger. Es war der Anfang vom Untergang der Schichtengesellschaft.

Der Erste Weltkrieg stellt einen gesellschaftlichen und politischen Wendepunkt dar. Vorbei war der Glanz des wilhelminischen, des viktorianischen Zeitalters. Die neue Welt war eine harte Welt der Wirtschaftskrisen und aufstrebenden Diktaturen; fast möchte man sagen, eine Übergangswelt in den nächsten Weltkrieg. Doch sie war auch der Vorläufer unserer heutigen Welt, sie war uns ähnlicher als der Welt, die sie ablöste. Daher kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der „Great War“, der große Krieg, gleichzeitig auch der große Veränderer war.

1 Kommentar:

  1. Eine sehr schöne Zusammenfassung!
    Ich denke, man könnte den Krieg nicht nur als Veränderer sehen, sondern auch als "Wecker". Vor dem Krieg war man einerseits in Träumen von Fortschritt, Macht und Sorgenlosigkeit gefangen, aber auch gleichzeitig in einem apathischen Schlaf, der die Demokratie unmöglich machte.
    Nach dem Krieg wurde bewusst, dass der Fortschritt auch negative Seiten hat, dass die Machtansprüche der Imperien in die Katastrophe führten und dass es keine sorgenlose Zukunft geben wird. Die Menschen fanden selbst Lösungen für die Zukunft, oder schlossen sich Vorstellungen anderer an, die aber eben keine Herrscher von Gottes Gnaden waren. Diese Lösungen für die Zukunft waren widersprüchlich, und sie sollten sich 20 Jahre später auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.

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